Zwischen allen Stühlen. Dilemmata der Zeitpolitik frühkindlicher Betreuung und Bildung in Frankreich nach 1945 - HAL-SHS - Sciences de l'Homme et de la Société Accéder directement au contenu
Chapitre D'ouvrage Année : 2015

Zwischen allen Stühlen. Dilemmata der Zeitpolitik frühkindlicher Betreuung und Bildung in Frankreich nach 1945

Jeanne Fagnani

Résumé

Seit den 1970er Jahren haben aufeinanderfolgende französische Regierungen aus dem rechten wie aus dem linken Lager in Reaktion auf gesellschaftlichen Druck radikale Kehrtwenden in der Kinderbetreuungspolitik vollzogen. Dem Modell Peter Halls zufolge führte dies zu einem Veränderungsprozess dritter Ordnung, der nur stattfindet, wenn ein radikaler Politikwechsel gleichzeitig Veränderungen in allen drei Komponenten von Politik bewirkt: der Justierung der Instrumente, der Instrumente selbst und der Hierarchie der zugrunde liegenden Politikziele. Der Ausbau öffentlicher Kinderbetreuungsstrukturen entsprach einem Anstieg in der Frauenerwerbsquote, was wiederum dazu führte, dass die Politik einen weiteren Ausbau des Angebots forderte. Diese politischen Verschiebungen trafen auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Im Ergebnis ist der Bereich Familie innerhalb des sozialen Sicherungssystems bislang vor Kürzungen verschont geblieben. Und trotz umfassender Bemühungen, öffentliche Ausgaben zu reduzieren, ist die Kinderbetreuung immer noch ein Wachstumsbereich innerhalb des französischen Sozialstaates. Das spiegelt den vergleichsweise hohen Stellenwert einer guten Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf der sozialen und politischen Agenda der französischen Gesellschaft wider. Doch mit der Jahrtausendwende hat schrittweise ein Wandel Einzug gehalten, der einen Veränderungsprozess erster Ordnung darstellt, in dem sich zwar die Justierung des Instrumentariums ändert, die allgemeinen Politikziele und -instrumente jedoch unverändert bleiben. Themen wie die „Arbeit-Freizeit-Balance“ werden dabei weiterhin in den überkommenen Bahnen erörtert und weisen damit eine starke Pfadabhängigkeit auf. Im Unterschied zu Deutschland, ist es in Frankreich nach wie vor allgemein akzeptiert, dass Kinder erwerbstätiger Eltern unter drei Jahren eine ganztägige Betreuungseinrichtung besuchen. Die frühe Sozialisierung, die diese Einrichtungen bieten, wird von vielen Familien sehr geschätzt, insbesondere vom Bildungsbürgertum. Als ein Resultat dieser Politik hat Frankreich nach wie vor eine der höchsten Erwerbsquoten von Müttern mit kleinen Kindern in der Europäischen Union und weist darüber hinaus neben Irland die höchste Geburtenrate auf. Die stufenweise Einführung von Maßnahmen und Programmen zur Unterstützung „berufstätiger Mütter“ ging mit einer Modernisierung der Normen von Familie und Kindererziehung einher. Seit den späten 1960er Jahren setzte sich das Modell der Doppelverdiener-Familie durch. Es erscheint Paaren (und insbesondere Frauen) als „normal“, Kinder zu bekommen und gleichzeitig dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Was sich in der politischen Debatte zunehmend gewandelt hat, ist der Diskurs über die Rolle der Väter. Das Recht (und die Pflicht) von Vätern, sich stärker im Familienleben einzubringen, hat an Bedeutung gewonnen. Das bezeugt unter anderem die Einführung des gesetzlichen Vaterschaftsurlaubs von zwei Wochen nach der Geburt eines Kindes – eine Maßnahme mit hohem Symbolwert. Das französische Modell des Vaterschaftsurlaubs kann auch als wohlfahrtsstaatliche Maßnahme angesehen werden, die mehr Freizeit schafft und den Druck mindert, der auf Familien mit kleinen Kindern lastet, insbesondere auf Familien mit geringem Einkommen. Damit wird das soziale Recht von Eltern, ihre kleinen Kinder zu betreuen, anerkannt und gestärkt. Darüber hinaus haben Maßnahmen zur Förderung von bezahlter Kinderbetreuung außer Haus positive Ergebnisse in Bezug auf die Einbeziehung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt erzielt. Das betrifft vor allem Frauen mit Migrationshintergrund oder geringer Berufsqualifikation, deren Erwerbsquote rapide anstieg und denen aufgrund der Kinderbetreuungsleistungen soziale Grundrechte und ein Mindesteinkommen garantiert sind. Dennoch spiegeln die seit Mitte der 1980er Jahre eingeführten Reformen im Bereich der Kinderbetreuung auch den zunehmenden Einfluss der Beschäftigungspolitik auf die Familienpolitik wider. Trotz der Rhetorik der „Wahlfreiheit“ steht aufgrund der ungleichen Machtverhältnisse zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die Entwicklung einer „workfare“ Politik ganz oben auf der Agenda. Das zeigt, dass Wohlfahrtsregime in erheblichem Maße von den Anforderungen des Arbeitsmarktes abhängen, auf die die Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne und die Sozialpolitik im weiteren Sinne ebenso wie die Familienpolitik reagieren. Durch die Bereitstellung flexiblerer Kinderbetreuungsarrangements, die es berufstätigen Eltern ermöglichen, den Anforderungen ihrer Arbeitgeber nachzukommen, hat die Politik den Interessen der Kinder in den letzten Jahrzehnten tendenziell den zweiten Rang zugewiesen. Dies ist bemerkenswert, denn die aktuelle Forschung kommt breit zu dem Ergebnis, dass sich irreguläre und lange Arbeitszeiten von Eltern auf das Wohlergehen von Kindern und auf die Qualität der Interaktionen innerhalb
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  • HAL Id : halshs-01199225 , version 1

Citer

Jeanne Fagnani. Zwischen allen Stühlen. Dilemmata der Zeitpolitik frühkindlicher Betreuung und Bildung in Frankreich nach 1945. Karen Hagemann et Konrad H. Jarausch. Halbtags oder Ganztags?: Zeitpolitiken von Kindergarten und Schule nach 1945 im Europäischen Vergleich, Beltz-Juventa, pp.234-258, 2015. ⟨halshs-01199225⟩
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